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Genosse Fürst

 

Rozhovor redaktorů Damira Frase a Franka Herolda s ministrem Schwarzenbergem v německém deníku Berliner Zeitung ze dne 31.3. 2007 (v němčině).

Guten Morgen Herr Schwarzenberg. Ist die Anrede überhaupt korrekt? Mit welchem Titel sollen wir Sie ansprechen?

Das ist mir völlig wurscht. Sie können Herr Minister sagen oder Herr Schwarzenberg.

Vielleicht Fürst?

Das bin ich auch. Dann halt Fürst, wenn es Sie freut. Mir ist das wirklich wurscht wie sonst was.

Sie haben gar keine Allüren, die man dem europäischen Hochadel so gerne nachsagt?

Was hilft mir das heute, seien wir mal ehrlich.

Glamour?

Glamour? Wenn man 25 oder 30 ist und zumindest noch hofft, dass sich ein Filmstarlet nach einem umdreht, dann schätzt man Glamour. Wenn man aber 70 ist und diese Hoffnung aufgegeben hat, taugt der Glamour zu nichts mehr.

Kennen Sie die proletarisch-adelige Kombination, die Wolf Biermann für Sie erfunden hat?

Der Genosse Fürst! Ich habe Wolf Biermann wahnsinnig gern. Ich halte ihn für einen interessanten Dichter, der wichtig und sehr gut ist.

Und trifft die Charakteristik vom Genossen Fürst auf Sie zu?

Mich sollen gefälligst die anderen beurteilen. Ich kann mir selbst gegenüber nicht objektiv sein. Im Tschechischen haben wir ein sehr schönes Sprichwort. Das geht so: "Sam sobe jezek kaderav" - "Sich selbst sieht der Igel lockig". Wenn man das weiß, dann sollte man sich jegliche Betrachtungen oder Beurteilungen seiner selbst ersparen.

Haben Sie die Debatte um die Verleihung der Ehrenbürgerwürde Berlins an Wolf Biermann verfolgt?

Leider nein. Mir hat nur jemand gesagt, dass es eine Debatte gegeben hat. Blöderweise muss ich jetzt so viele Unterlagen lesen, dass ich nicht mehr dazu komme, solche interessanten Sachen zu verfolgen.

Letztendlich hat man sich geeinigt und ihm die Ehrenbürgerwürde verliehen.

Es wäre auch eine Schand' gewesen, wenn es anders gekommen wäre.

Wir wollen mit Ihnen einen weiten Bogen durch die Geschichte schlagen. Ihre Familie musste 1948 Prag verlassen.

.damals waren wir schon gar nicht mehr in Prag, sondern auf dem Lande. Unser Haus war seit Anfang 1948 vermietet an die erste israelische Botschaft der Welt. Das hat meine Mutter damals organisiert. Ich kann mich erinnern, wie am Tag der Unabhängigkeitserklärung Israels dort der Davidstern aufgezogen wurde.

Wie würden Sie Ihren Fortgang mit einem Wort beschreiben?

Wenn ein Kind mit zehn Jahren seine Heimat verlässt, dann ist das zunächst ein Trauma.

Würden Sie den Begriff "Vertreibung" dafür verwenden?

Nein. Wir sind nicht vertrieben worden. Das ist nicht wahr. Im Gegenteil: Ich glaube, das Regime war mehr interessiert daran, meinem Vater einen längeren festen Aufenthalt zuzuweisen - in einem wirklich sicheren Raum. Deswegen sind wir ja auch so schnell wie möglich verschwunden. Das war angesichts des Regimes, das installiert wurde, der einzig mögliche Weg, die Familie zu retten.

Können Sie akzeptieren, wenn Sudetendeutsche von "Vertreibung" sprechen?

Was im Jahr 45 passiert ist, war natürlich eine Vertreibung. Es ist ein Blödsinn, das zu bestreiten. Ich war immer dafür, dass man die Sachen bei ihrem wahren Namen nennt.

Wie empfinden Sie die deutsche Debatte, in der versucht wird, die Vertreibungsgeschichte wieder mehr in den Vordergrund rücken?

Schauen Sie: Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass das, was passiert ist, furchtbar war. Das Ganze war grauenhaft. Umgekehrt muss man wissen, dass die Sache ihre Vorgeschichte hatte. Ich verstehe absolut, wenn die Leute wissen wollen, was mit ihren Großeltern geschehen ist. Ich bin aber dagegen, wenn das politisch instrumentalisiert wird. Ich glaube, wir sollten uns endlich mit der Gegenwart und der Zukunft beschäftigen. Beides ist kompliziert genug. Wenn man Geschichte instrumentalisiert, dann führt das immer zu einer Katastrophe. Das ist die Erfahrung des 20. Jahrhunderts.

Unterstellen Sie Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, dass sie die Geschichte instrumentalisiert?

Ich unterstelle nie jemandem etwas. Aber manche ihrer Äußerungen wirken so. Ich hoffe, Frau Steinbach ist voll des besten Willens.

Die große Koalition in Deutschland hat vereinbart, dass es in Berlin ein "sichtbares Zeichen des Gedenkens an die Vertreibung" geben soll. Was halten Sie davon?

Ich meine, so etwas ist wahrscheinlich nicht ideal in der Hauptstadt eines Landes, das sicher eines der Hauptbetroffenen der Vertreibung war, aber ohne dessen Zutun der ganze Prozess in Europa gar nicht losgegangen wäre. Nicht nur Menschen, sondern auch Orte haben ihre historische Belastung - Berlin für viele Polen, München für die vielen Leute aus den böhmischen Ländern, Workuta für viele Deutsche. Das muss man in Rechnung stellen. Ich war ein Anhänger der Idee, dass Breslau ein idealer Ort für eine Gedenkstätte gewesen wäre. Dort kommt alles zusammen - zunächst lässt sich an die Flucht der Polen erinnern, dann an die Vertreibung der Deutschen, und dann ist es wieder von Leuten neu besiedelt worden, die ihrerseits vertrieben worden sind.

Können Sie erklären, warum die Vertreibungsfrage zwischen Polen und Deutschland zu so viel Ärger führt, während es zwischen Tschechien und Deutschland inzwischen relativ ruhig ist?

Seien Sie etwas objektiver! Vor zehn Jahren war es umgekehrt - zwischen Polen und Deutschland herrschte hervorragendstes Einvernehmen, und das Verhältnis zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik war etwas angespannter. Das wechselt und hat selten nur eine Ursache. Wer einmal eine Verletzung am Knochen gehabt hat, weiß, dass er bei jedem Wetterwechsel Schmerzen verspürt. Das ist in der Politik genauso. Es mögen ja vielleicht nur Phantomschmerzen sein, aber sie tun weh wie echte Schmerzen.

Was war für Sie das auslösende Moment, sich politisch zu engagieren?

Das ist eine frühkindliche Prägung. Wenn man Jahrgang 1937 ist und als Kind mitten im Krieg zu denken beginnt - Heydrich.

.der Statthalter Hitlers in Prag während der deutschen Besetzung.

.hat uns aus Schloss Orlik hinausgeschmissen, dann kam das Bombardement im April 1945, der kommunistische Putsch im Jahr 48. Wenn man als Kind erfährt, wie sich die Politik mit einem selbst beschäftigt, dann fängt man auch als Kind an, sich mit der Politik zu beschäftigen.

Als Sie aus der Tschechoslowakei fort mussten, hätten Sie auch sagen können: Das Kapitel ist für mich abgeschlossen. Warum haben Sie das nicht getan?

Ich sah beim besten Willen nicht ein, warum ich mir von den Kommunisten mein Zuhause nehmen lassen sollte. Wie komm' ich dazu? Diesen Triumph wollte ich denen nicht gönnen. Es ist eine persönliche Geschichte, wie es dazu gekommen ist.

Verraten Sie sie uns?

Das ist jetzt 59 Jahre her. Es war also der kommunistische Putsch im Jahr 1948, und ich bekam, wie immer zu dieser Jahreszeit, Anfang März, eine Grippe. Ich musste infolge dessen nicht zur Schule gehen, und meine Schwester hatte zu Weihnachten ein Radio bekommen, was eine Sensation war. Ein ordentliches Radio. Eines Morgens war ich noch im Schlafrock und hab' das Radio eingeschaltet. Es spielte ernste Musik - aus "Mein Vaterland" von Smetana. Seither frage ich mich immer, wenn ich diese Musik höre: Um Gottes Willen, was ist passiert? Kurze Zeit danach kam in den Neun-Uhr-Nachrichten, dass der damalige Außenminister Jan Masaryk, der ungeheuer beliebt war im Lande, in der Früh Selbstmord verübt hätte. Auch ich als Kind verstand, dass das wohl kein reiner Selbstmord war. Ich hatte ja ein paar Tage vorher vom Fenster aus die marschierenden kommunistischen Milizen gesehen. Und mir war klar, dass damit der letzte Nagel in den Sarg der freien Tschechoslowakei geschlagen war.

Diese Erkenntnis hatten Sie schon als zehnjähriges Kind?

Man kann die Kinder von damals nicht mit den heutigen vergleichen. Heute ist ein zehnjähriger Knabe so aufgeklärt, wie es damals ein Doktor der Gynäkologie kaum war. Dagegen hat heute ein Zwanzigjähriger kaum Ahnung von der Politik. Wir hatten Ahnung. Ich kann heute noch Mitglieder der damaligen Regierung aufzählen. Meine Mutter, die eine sehr weise Frau war, hat mir schon einige Zeit zuvor gesagt: Wir werden wahrscheinlich weggehen müssen. Als ich dann die Geschichte mit Masaryk gehört habe, habe ich gesagt: Ich gebe nicht auf, bis dieses Land frei ist. Nun, es ist frei. Ich behaupte nicht, dass es durch mein Zutun erfolgte, aber es ist frei. Ich hab' Zeit meines Lebens Politik gemacht. Als ich 1959/60 in München studiert habe, war ich sogar Mitglied im Asta und habe die Anfänge des SDS mitgemacht und alles.

Es wird über Sie gesagt, dass Sie in dieser Zeit ein Boheme-Leben geführt haben.

Zu der Zeit ließ sich das ja noch vereinen. Erstens wird man nicht so schnell müde, und man kann nicht behaupten, dass mich die Politik nicht mehr interessiert hätte als die Mädchen.

Wie haben Sie Vaclav Havel kennen gelernt?

Das war Mitte der achtziger Jahre. Ich habe die Helsinki-Föderation für Menschenrechte geführt und das Dokumentationszentrum der tschechischen Literatur, der Samisdat-Produktion, aufgebaut. Ich habe mich gar nicht bemüht, Havel zu treffen, nicht einmal, als ich in Prag war. Ich habe gewusst, hinter ihm würde Begleitung sein und hinter mir auch. Ich habe mir gesagt: Warum soll ich ein Treffen von vier Polizisten veranstalten? Aber dann hat er mir ausrichten lassen, er würde mich sehr gern treffen. Daraufhin haben wir uns in einem lärmenden Lokal am Wenzelsplatz verabredet. Der Lärm war wichtig, weil wir nicht abgehört werden konnten. Wir haben zwei Stunden zusammengesessen. Er sagte mir, es störe ihn überhaupt nicht, wenn ich ihn besuche. Wenn die vier Herren draußen warten müssten, dann sei das deren Problem, nicht unseres. Ab dann haben wir uns regelmäßig getroffen.

Wann hatten Sie das Gefühl, dass der "reale Sozialismus" scheitern würde?

Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich war mit einem Bekannten zusammen, der mit Havel telefoniert hatte und dabei diese Geschichte erfuhr: Die Havels waren vom Land zurück nach Prag gekommen, als überraschend Jugendfreunde aus Mähren vor der Tür standen. Die waren völlig unpolitisch, niemand von der Charta 77. Es war nichts zu essen und zu trinken im Haus, woraufhin Vaclav Havel getan hat, was jeder normale Prager tut. Man holt den großen Krug aus der Küche, geht ums Eck ins Wirtshaus, lässt sich den Krug mit dem guten Bier vollschenken und bringt ihn zurück in die Wohnung, um die Gäste zu bewirten. Havel nahm also seinen Krug und wollte hinunter gehen. Auf der Stiege im Treppenhaus war wie immer ein Kieberer, ein Geheimer. Und der sagte zu Havel: "Wir wissen ganz genau, Ihr Besuch ist völlig unpolitisch. Wissen's was? Geben Sie mir den Krug. Ich hol' für Sie das Bier. So geschah es auch." Daraufhin habe ich zu meinem Bekannten gesagt: Jetzt geht das Regime unter. Wenn schon die Staatspolizei sich überlegt, wie sie ihren Ruf verbessern kann! Der Staatspolizist holt das Bier! Ich wusste: Jetzt hört es auf. Und so war es auch. Dann hat es vielleicht noch ein Jahr gedauert, und es war wirklich Schluss.

Wann haben Sie entschieden, nach Prag zurückzukehren?

Sofort im Dezember 89. Ich wollte, dass die Dinge in Bewegung bleiben.

Sie waren dann Havels Kanzler, Bürochef des Staatsoberhauptes. Wer hat wem mehr zu verdanken? Sie Havel oder er Ihnen?

Ich dem Präsidenten Havel. Gar kein Zweifel.

Es heißt, Sie seien Havels wichtigster Berater gewesen.

Es gab verschiedene Berater. Sehr viele haben damals mit Havel diskutiert. Ich war einer von ihnen. Man soll meinen Einfluss nicht überschätzen. Der Eindruck von außen ist das eine, und das Wissen, wenn man dabei war, ist das andere.

War es denn schwierig, einer Gruppe von Dissidenten das Regieren beizubringen?

Ich bitte Sie: Ich bin vorher auch nie in einer Regierung gewesen. Ich habe niemandem etwas beigebracht. Wir waren eine begeisterte Truppe, die da angetreten ist - sicher alle miteinander Dilettanten. Gar kein Zweifel. Wir haben den Job während der Arbeit gelernt, und erstaunlicherweise ist das gar nicht so schlecht gelungen. Die größte Überraschung war, dass ich überhaupt in diese Crew aufgenommen wurde. Ich habe nicht erwartet, dass mich der Präsident zur Mitarbeit auffordert - gleich am Tag, an dem er gewählt wurde, am 29. Dezember 1989.

Im Jahr 2009 wird Tschechien die EU-Präsidentschaft übernehmen. Hätten Sie gedacht, dass sich die Geschichte so rasant entwickelt?

Ich habe schon geglaubt, dass das relativ schnell gehen wird. 50 Jahre totalitäre Systeme, von 1939 bis 1989, haben natürlich entsetzliche Folgen. Aber ich wusste immer, was in dem Land und in seinen Menschen steckt. Wir waren bis 1939 ein völlig normales europäisches Land. Als der Bann einmal gebrochen war, war mir klar: Das wird schon weitergehen.

Was ist Europa für Sie?

Ein Kontinent zunächst einmal. Politisch gesehen ist Europa ein Prozess, der noch läuft. Die Europäische Union ist nichts Abgeschlossenes, sondern entwickelt sich fortlaufend.

Wie weit geht für Sie Europa?

Der Ural ist eine geografische Grenze. Aber was das politische Projekt angeht, so ist es dringend notwendig, die Integration des Westbalkans so schnell wie möglich abzuschließen. Wenn wir diese Länder nicht integrieren, dann bewahren wir, mit Verlaub gesagt, unter unserem Hintern das Pulverfass, das der Balkan schon die letzten 150 Jahre war. Ich bin überzeugt, dass man ohne Pulverfass sicherer sitzt. Das ist für mich die erste Aufgabe.

Was ist mit der Ukraine?

Die Ukraine hat eine europäische Zukunft. Ich traue mich aber nicht abzuschätzen, wie lange der Annäherungsprozess dauern wird. Ich bin ein Gegner davon, allzu viel Geschichte in die Politik hineinzutragen, aber wir sollten nicht vergessen, dass vor dem Einbruch der Mongolen Kiew ein selbstverständliches Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft war. Damals heirateten die Kiewer Fürsten die Prinzessinnen aus Europa.

Sie reden von einer Zeit, die bald 800 Jahre zurück liegt.

Ich wollte nur daran erinnern, was schon einmal war. Ich behaupte nicht, dass der Integrationsprozess 800 Jahre dauern wird. Aber einige Zeit wird er schon dauern.

In vielen anderen EU-Mitgliedsländern wird eine andere Priorität gesetzt. Dort heißt es, erst einmal müsse die EU funktionieren, bevor man sich an die Erweiterung macht.

Europa ist handlungsfähig. Manches könnte vielleicht einfacher sein, aber die Institutionen funktionieren.

Brauchen wir also gar keine Verfassung?

Ich glaube, wir sind uns inzwischen einig geworden, dass es nicht mehr Verfassung heißen wird. Aber egal, welchen Namen wir der Sache geben, irgendeinen Fahrplan werden wir wohl brauchen, damit es nicht zu Kollisionen kommt. Daran besteht kein Zweifel. Und ebenso unstrittig ist wohl, dass die unzähligen dicken Dokumente, die zu diesem Thema angehäuft wurden, den Ausgangspunkt bilden werden. Wir brauchen sicherlich so etwas wie ein Statut, das die Dinge einfacher und demokratischer gestaltet.

Den 600-Seiten-Wälzer, der jetzt auf dem Tisch liegt, wollen Sie also nicht?

Gott bewahre uns davor. Was immer sich dem Gedanken einer Verfassung auch nur nähert, muss so geschrieben sein, dass es auch längere Zeit Bestand haben kann. Da gehören Sachen nicht hinein, die äußerst zeitgebunden sind. Davon sollten wir uns unbedingt lösen. Wir sind im 21. Jahrhundert, wir können nicht den ganzen Ballast des 20. Jahrhunderts mit uns herumschleppen.

Manche meinen , man müsste noch weiter zurück gehen, sie wollen einen deutlichen Verweis auf die christlich-jüdischen Wurzeln Europas.

Ich brauche das nicht. Jemand hat einmal sehr schön gesagt, Europa sei auf ein paar Hügeln gegründet: auf Sinai und Golgatha einerseits sowie der Akropolis in Athen und dem römischen Kapitol andererseits. Das zu leugnen wäre töricht. Für mich persönlich ist das so selbstverständlich, dass man es nirgendwo hineinschreiben muss. Ich habe aber auch nichts dagegen, wenn man es aufschreibt. Doch aus den bitteren Erfahrungen meines Lebens weiß ich auch, dass historische Verweise gemeinhin zu Streit führen.Wir müssen die Geschichte kennen, um zumindest die ärgsten Fehler nicht zu wiederholen. Aber zu viel Historismus ist auch falsch. Historische Erfahrungen werden übrigens so gut wie nie übertragen, Vorurteile jedoch werden von Generation zu Generation immer weiter gereicht.

Was also ist nötig?

Wir brauchen einen Text, der uns über die nächsten Jahrzehnte begleiten wird und über den wir nicht bei jedem Europäischen Rat aufs Neue in Streit geraten. Ein klares und einfaches, leicht lesbares Dokument.

Das gibt es bisher in der EU nicht.

Da kann ich Ihnen leider nicht widersprechen. Aber ich kann Ihnen sagen, was ich mir wünsche.

Wie würde ein leicht lesbarer erster Satz klingen?

Der fällt mir auf Anhieb nicht ein. Ich bin kein Dichter. Aber ich verwende diese Beschreibung ganz gern: Der Text müsste die Eigenschaften eines Fahrplans haben. Er muss Abläufe klar regeln, vermeiden, dass zwei Züge auf dem gleichen Gleis in entgegengesetzter Richtung aufeinander zu rasen, leicht erfassbar und als allgemeines Regelwerk von allen akzeptiert sein.

Ihr Land ist wie das Baltikum, Polen, Ungarn und die Slowakei von der westlichen Flanke des Ostens zur östlichen Flanke des Westens geworden. Können Sie nachvollziehen, dass Russland darüber beunruhigt ist?

Es ist nie ganz leicht, wenn man einen Abstieg seines Status hinnehmen muss. Da spreche ich aus ganz persönlicher, reicher Erfahrung. Es war auch zum Beispiel für Großbritannien und Frankreich nicht leicht, den Verlust ihrer Weltreiche hinzunehmen. Und wenn Sie ehrlich sind: Die Deutschen empfinden es noch immer als schmerzlich, dass die deutschen Sprachinseln von Böhmen über Siebenbürgen und das Baltikum bis an die Wolga weitgehend verschwunden sind. Es bedeutet nämlich, dass Deutsch als lingua franca Mitteleuropas, als weithin gebräuchliches Verständigungsmittel, verloren gegangen ist. Solche Entwicklungen sind schmerzlich, gar kein Zweifel.

Das ist vergleichbar mit Russland?

Aus Moskauer Sicht ist der Verlust des Status einer Supermacht einfach schmerzhaft. Mit Ausnahme Sibiriens sind Russland alle Territorialgewinne seit Iwan dem Schrecklichen verloren gegangen. Weil sich das sehr schnell vollzog, ist der ganze Vorgang psychologisch noch schwerer verdaulich. Russland hat ja keinen Krieg verloren. Das Sowjetreich ist in der Folge einer Implosion verschwunden. Deshalb verstehe ich eine gewisse Nostalgie.

Man hört das Aber.

Etwas anderes ist die Politik. Da wird Russland wohl irgendwann einmal in der Gegenwart ankommen und sich mit den neuen Tatsachen auseinandersetzen müssen. Das Land ist keine Supermacht mehr, aber ohne Zweifel noch immer eine Großmacht. Mit ungeheuren Möglichkeiten seiner Entwicklung. Dieses Land hätte unermessliche Chancen, wenn es sich endlich mit sich selbst beschäftigen würde, statt von großer Weltpolitik zu träumen und seine Raketenrüstung voranzutreiben. Ich finde es unverständlich, dass Moskau immer wieder so viel in diese Dinge investiert, statt zu erkennen, dass man erst einmal das eigene Land erobern müsste. Zu glauben, dass man in Mitteleuropa die alten Einflusszonen wiedererlangen und darüber hinaus noch eine Einspruchszone erhalten kann, das ist eine verfehlte Politik. Das muss man bei aller Freundschaft und Sympathie für die Russen zurückweisen. Das geht nicht. Die russische Politik macht mir Sorge.

Der frühere deutsche Bundeskanzler Schröder bezeichnet dagegen Putin als "lupenreinen Demokraten".

Ich habe keinerlei Informationen, welche Lupe der frühere Bundeskanzler verwendet.

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