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„Wir Europäer müssen Putin seine Vision nehmen“

Interview der Zeitung Die Welt mit tschechischem Außenminister Jan Lipavský 
über Ukraine und Russland und die Rolle der Visegrad-Länder (Die Welt Online am 1.3.2022, Druckversion, S. 5 - Politik am 2.3.2022)

Die Welt Online 01.03.2022, AUSLAND TSCHECHISCHER AUSSENMINISTER

„Wir Europäer müssen Putin seine Vision nehmen“

Von Philipp Fritz

Tschechiens Präsident Zeman galt lange als Putin-Verehrer. Nun kippt er – ähnlich wie viele Sympathisanten in Deutschland. „Wir hätten früher aufwachen können“, sagt sein Außenminister Jan Lipavsky. Und erklärt, warum die deutsche Position jetzt besonders wichtig ist.

Zu lange glaubten Politiker im Westen, speziell in Deutschland, man müsste Wladimir Putin entgegenkommen. Abschreckung wurde dagegen vernachlässigt. Als einer von Putins mächtigsten Fans in Europa galt Tschechiens Präsident Milos Zeman – bis jetzt. Sein Außenminister Jan Lipavsky von der Tschechischen Piratenpartei ist seit Dezember im Amt und gib zu, dass der Drahtseilakt im Verhältnis zu Russland misslungen ist. Doch der 36-Jährige betont auch, dass alte Konfliktparteien wegen Russlands Angriffskrieg neu zusammenfinden.

WELT: Herr Lipavsky, bis zuletzt hat die politische Klasse in Europa, auch in Deutschland und Tschechien, gehofft, eine Invasion der Ukraine lässt sich diplomatisch abwenden. Jetzt zeigt sich, wie brutal und skrupellos der russische Präsident gegen die Ukrainer zuschlägt. Haben die Europäer sich in Wladimir Putin getäuscht?

Jan Lipavsky: Ich denke, fast niemand hat eine solche Eskalation, einen so brutalen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine erwartet. Tatsächlich aber haben viele Politiker und Experten vor einem aggressiven Russland und vor Putin gewarnt, vor allem in unserer Region, in Ostmitteleuropa. Das liegt daran, dass wir Erfahrungen mit dem imperialen Russland haben. In unserem Fall sind es die Erfahrungen des Prager Frühlings von 1968, als wir von sowjetischen Kräften besetzt wurden.

WELT: In Deutschland wenden sich bisher Putin-freundliche Politiker vom russischen Präsidenten ab. Auch die politische Klasse in Tschechien war nicht frei von solchen Sympathien. Milos Zeman, Ihr Präsident und ein Verehrer Putins, distanziert sich erst jetzt von ihm.

Lipavsky: Die Frage für uns war immer, wie wir uns vor einem aggressiven Russland schützen, aber gleichzeitig Handelsbeziehungen mit dem Land und seinen Menschen pflegen können. Das war immer ein riskantes Spiel. Viele von uns Europäern wollten zu lange nicht begreifen, was das für ein Regime in Moskau ist. Dabei gab es die Annexion der Krim, den Krieg im Donbass, gegen Georgien schon 2008. In unserem Land war der russische Militärgeheimdienst für die Explosion einer Munitionsfabrik verantwortlich, in Großbritannien gab es einen Giftanschlag, einen weiteren Anschlag in Berlin. Wir hätten früher aufwachen können, ja. Was zählt, ist, dass wir jetzt alle aufgewacht sind.

WELT: Die Solidaritätsbekundungen für die Ukraine in Europa sind gewaltig. In Prag allein gingen am Wochenende mehr als 80.000 Menschen gegen den Krieg auf die Straßen.

Lipavsky: Der große Teil der tschechischen Gesellschaft verurteilt diesen russischen Angriffskrieg. Die Menschen sind erschüttert von den Bildern toter und fliehender Zivilisten, von den russischen Bombenangriffen – und das alles nur, weil ein Mann die irre Vision hat, ein neues Sowjetimperium zu errichten. Diese Vision müssen wir Europäer Putin nehmen.

WELT: Die EU hat schnell und hart reagiert. Die Sanktionen der Europäer und der G-7-Länder sind in Russland spürbar. Nimmt der Westen Putin so seine „Vision“, wie Sie sagen?

Lipavsky: Vor allem wie die Europäer reagieren, ist unglaublich. Ich bin besonders froh, dass die Deutschen sich endlich klar positionieren und die Sorgen der Menschen in Ostmitteleuropa ernst nehmen. Deutschland hat lange gebraucht, aber stößt jetzt fundamentale Veränderungen an. Wir sehen das. Für Deutschland sind wir, Tschechien, die Slowakei und Polen, eine Pufferzone hin zu einem europäischen Krieg. Gleichzeitig ist Deutschland unser Fürsprecher und Partner. Dass Deutschland der Ukraine nicht nur finanziell hilft, sondern auch mit Waffenlieferungen, ist enorm wichtig. Denn die Ukraine hat nur eine Chance, diesen Krieg für sich zu entscheiden, wenn wir ihr Waffen liefern.

WELT: Tschechien lieferte bereits länger Waffen in die Ukraine. Was tun Sie jetzt?

Lipavsky: Wir tragen natürlich die europäischen Sanktionen mit, setzen uns aber auch dafür ein, dass Gesprächskanäle offen sind. Am Ende nämlich muss es eine diplomatische Lösung geben. Jetzt stecken wir zwölf Millionen Euro in humanitäre Hilfe vor Ort, aber auch in Polen und der Slowakei, wo sich viele Flüchtlinge befinden. Auch leisten wir weiter militärische Unterstützung. Ich kann Ihnen jedoch nicht sagen, was wir in die Ukraine schicken.

WELT: Der Osten der EU, die Visegrad-Staaten Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn, tragen geschlossen die EU-Sanktionen mit, sind jedoch nicht besonders geeint. Ungarns Regierungschef Viktor Orban ist zurückhaltend, skeptisch. Vor dem Ausbruch des Krieges bereits wurden Risse in der Visegrad-Gruppe sichtbar. Tschechien lag wegen des Braunkohletagebaus Turow mit Polen im Streit, Ihre Regierung schlägt seit Dezember proeuropäischere Töne an, als die Vorgängerregierung. Verändert sich die Visegrad-Gruppe gerade fundamental?

Lipavsky: Ich habe es bereits gesagt, alle Visegrad-Länder sind jetzt eine Pufferzone für Westeuropa. Russland führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine und verbreitet Angst in Europa. Dagegen rücken wir Europäer zusammen, auch in der Visegrad-Gruppe. Zwischen Nachbarn gibt es immer auch Streitigkeiten, aber die spielen gerade keine Rolle. Der Streit um den Braunkohletagebau Turow ist beigelegt; ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Partnern in Polen oder Ungarn. Wichtig, dass die gesamte EU jetzt zusammensteht.

 

https://www.welt.de/politik/ausland/article237209837/Tschechischer-Aussenminister-Was-zaehlt-ist-dass-wir-jetzt-alle-aufgewacht-sind.html?icid=search.product.onsitesearch