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Jan Lipavský: „Mit Appeasement stoppt man Aggressoren nicht“

Ein Gastbeitrag des tschechischen Außenministers Jan Lipavský zum Krieg in der Ukraine, veröffentlicht in FAZ am 4. 5. 2022.

Das Datum 24. Februar 2022 mar­kiert nicht bloß den Anfang der russischen Invasion in die Ukraine, sondern auch den Anfang einer neuen Ära. In unserer direkten Nachbarschaft werden Gräueltaten verübt, die man sich im heutigen Europa überhaupt nicht vorstellen konnte. Dahinter steckt Russland. Es möchte der Ukraine das Selbstbestimmungsrecht absprechen und damit auch die eigene Einflusssphäre auf Kosten des Völkerrechts sowie der auf diesem Recht basierten Weltordnung erweitern.

Mit seiner Aggression gefährdet Russland nicht nur Staaten, die es als seine Feinde betrachtet. Es gefährdet auch das Leben in Frieden, Einhaltung der Bürger- sowie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie. Sie können nicht mehr für selbstverständlich gehalten werden, denn der russische Krieg ist gegen Prinzipien gerichtet, welche das Kernwesen unserer Gemeinschaft darstellen. Tapfere Ukrainer verteidigen nicht nur ihr Vaterland, sie verteidigen auch unsere Werte und unsere Vater­länder. Darum müssen wir ihnen wirksam helfen, angefangen bei der Aufnahme der Flüchtlinge (in der Tschechischen Republik haben wir bereits etwa 300 000 registriert) über humanitäre Hilfe bis zu notwendigen Waffenlieferungen. Die Tschechische Republik war unter den Staaten, die es am frühesten kapiert haben. Sie gehört auch zu den Staaten, welche die strengsten Sanktionen einfordern. Wir sind dabei weder Russlandhasser, noch wollen wir die Lage eskalieren. Uns fällt bloß kein anderer Weg ein, das Böse zu stoppen. Vielleicht werden auch Russen eines Tages unsere Wahl verstehen.

Zur Prinzipientreue verpflichtet uns auch unsere historische Erfahrung. Der Einmarsch der sowjetischen Armee im Jahre 1968 bleibt uns in lebendiger Er­innerung. Auch damals hat der Kreml behauptet, dass seine Soldaten nur kommen, um unsere Bürger zu befreien – obwohl ihr Ziel war, sie um jegliche Freiheit zu bringen. Danach folgten 20 Jahre in Unfreiheit, die erst durch die Samtene Revolution zu Ende ge­bracht wurden. Aufgrund dieser Erfahrung kann man sich gut in die Lage der Ukrainer hineinversetzen. Zugleich sehen wir, dass die Ukrainer sich heute nach den gleichen Werten sehnen, von denen Tschechen und Slowaken im Jahr 1968 geträumt haben und die sie erst nach dem Jahr 1989 – gefestigt durch den Beitritt zu NATO und EU – voll ausleben können.

Die zweite prägende Erfahrung heißt München 1938. Der damalige Pakt hat in vielen Tschechen ein starkes Un­rechtsgefühl hinterlassen, als sie gesehen haben, dass die Mächte angesichts von Hitlers Drohungen bereit waren, zugunsten eines fragwürdigen Friedens ein alliiertes Land zu verraten. Mag sein, dass der Westen damals tatsächlich geglaubt hat, dass die Strategie lohnt und die Opferung eines kleinen demokratischen Staates Europa vor Schlimmeren bewahrt. Das entschuldigt den Westen aber nicht. Sein tragischer Irrtum bekräftigte bloß Hitler in seiner Annahme, dass er noch weitergehen kann. Diese Erfahrung lehrt, dass Ap­peasement keinen Aggressor stoppen kann. Doch nicht nur das. Am Beispiel der Tschechoslowakei kann man sehen, dass verzweifelte Länder auch verzweifelte Dinge tun können. Dazu gehört, sich zweifelhafte Verbündete zu suchen. Die Tschechoslowakei suchte sie im Osten und landete für weitere 40 Jahre unter dem Joch einer kommunistischen Diktatur – ein weiterer Grund, alles zu tun, um die Ukrainer vor einem solchen Irrtum zu bewahren. Man muss sie spüren lassen, dass sie bei uns, im Westen, willkommen sind. Der Kandidatenstatus für einen (späteren) EU-Beitritt wird extrem helfen, um die Ukrainer in diesen schwierigen Zeiten nicht zu ­verlieren!

Was unseren strategischen Partner Deutschland angeht, ist uns klar, dass sein Blick auf Russland und Osteuropa von anderen Erfahrungen geformt ist. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren spielte Deutschland leider eine unselige Rolle, die der des heutigen Russlands nicht unähnlich ist. Für uns ist jedoch eine große Inspiration, wie Deutschland sich mit seinem eigenen Versagen wie auch mit dem Unrecht, das es selbst erfuhr, auseinandergesetzt hat. Es hat einen sehr langen Weg zurückgelegt und ist eine starke Demokratie, eine Wirtschaftsmacht sowie der Motor der europäischen Integration geworden. Es bewies auch, dass es zur Selbstkorrektur fähig ist. Das bezieht sich auch auf seine Russlandpolitik in Anbetracht der russischen Aggression. Deutschland zaudert noch, stärkere „Leadership“ zu übernehmen. Doch das ist normal, denn Zeitenwenden bringen auch Zweifel und Befürchtungen mit sich. Das kennen wir aus unserer Vergangenheit. Doch Russland gefährdet uns alle, und der effektive Schutz von allem, was uns wichtig ist, verlangt außerordentliche Beschlüsse. Die kann man viel besser in Kooperation mit Partnern fassen, die einen unterstützen und ermutigen können. Wir Tschechen sind bereit, solche Partner für die deutschen Nachbarn zu sein. Zugleich verlassen wir uns auf Deutschland, dass es auch in diesem schicksalhaften Moment wieder zum Motor Europas wird.